6 Dinge, die Sie unbedingt über das Management-Experiment «Holacracy» wissen müssen

Das neue Management-System «Holacracy» setzt auf maximale Eigenverantwortung der Mitarbeitenden, um die Effektivität des Unternehmens zu steigern. Begründet vor ca. 10 Jahren von einem Unternehmer aus Pennsylvania, Brian Robertson, hat das System inzwischen über 10 000 Anhänger in mehr als 300 Unternehmen gewonnen. Aktuell berühmtestes Beispiel ist wohl der Online-Schuhverkäufer Zappos: CEO Tony Hsieh hat sich 2013 zusammen mit über 1000 Mitarbeitenden auf das Experiment Holacracy eingelassen. Aber was ist Holacracy nun genau – oder vielmehr, was ist es nicht?

1. Holacracy und Anarchie

Anarchie ist die Abwesenheit von Herrschaft und somit jeglicher Hierarchien. Ganz im Gegensatz dazu beruht das System «Holacracy» auf der grundsätzlichen Erkenntnis, dass auf dieser Welt alles in Hierarchien gegliedert ist – von menschlichen Zellen bis zu Unternehmen. Die hierarchischen Strukturen in einer Holacracy sind teilweise sogar noch stärker ausgeprägt als in einem klassischen Management-System.

Illustration Hierarchie: Silhouetten von Geschäftsleuten

Wo ist dann der Unterschied? In einer Holacracy basiert die Hierarchie nicht auf Personen und Positionen, die relativ starr zugeteilt sind, sondern auf einem flexiblen System von «Rollen» und «Kreisen». Der Inhaber einer bestimmten «Rolle» hat die Autorität, alles zu tun, was für die Erfüllung der Rollenaufgaben notwendig ist – solange es nicht explizit gegen eine vorhandene Regel verstösst. Die sogenannten «Kreise» ersetzen die früheren Abteilungen und sind, ähnlich wie die «Rollen», aufgabenbezogen hierarchisch gegliedert.

2. Holacracy und Manager

Was es in einer Holacracy nicht gibt, ist der offizielle Jobtitel des Managers, den eine bestimmte Person vertraglich festgelegt innehält. In einem Unternehmen, das nach den Prinzipien einer Holacracy organisiert ist, werden Sie also kein Türschild mit «XY, Digital Marketing Manager» finden. Die Manager-Position wird dafür durch eine bestimmte Rolle ersetzt, nämlich dem «Lead Link». Lead Links führen einen oder mehrere Kreise an und haben eine zentrale Funktion für die Zusammenarbeit der verschiedenen Kreise.

3. Holacracy und definierte Prozesse

Wenn sich ein Unternehmen für dieses Management-System entscheidet, muss es eine «Verfassung» ratifizieren, die sogenannte «Holacracy Constitution» – aktuell ist es die Version 4.1. In dieser Verfassung werden zahlreiche Prozesse genauestens definiert. So findet man zum Beispiel detaillierte Beschreibungen, wie Meetings abzulaufen haben oder Entscheidungen getroffen werden sollen.

4. Holacracy und definierte Aufgaben

In einer Holacracy haben die Mitarbeitenden keine vertraglich festgelegten, offiziellen Positionen mit klar definierten Aufgaben, sondern nehmen gemäss ihren Neigungen und Interessen eine oder häufig mehrere Rollen ein.  Diese können sie aber meist nicht vollkommen frei gestalten: Gerade die Aufgabengebiete und Verantwortlichkeiten von Kernrollen wie zum Beispiel «Secretary» oder «Lead Link» sind in der Verfassung genauestens definiert.

5. Holacracy und Sanktionierung von schlechten Leistungen

Ohne klassische Hierarchien oder HR-Abteilungen ist kaum möglich, schlechte Leistungen von Mitarbeitenden zu sanktionieren – oder? Nicht ganz: In einer Holacracy kommt hier das Prinzip «Naming and Shaming» ins Spiel. Dies kann zum Beispiel über sogenannte «Leaderboards» funktionieren – eine Art öffentliche «Pinnwand», auf der die Mitarbeitenden nach ihren Leistungen aufgeführt sind. Oder die betreffenden Mitarbeiter müssen vor einem Gremium Rechenschaft ablegen, sodass das Leistungsstreben durch natürlichen Gruppendruck gefördert wird

Schild: reserviert für den Mitarbeiter des Monats

Holacracy: Die Lösung aller Probleme?

Ob Unternehmen mit Holacracy wirklich langfristig Produktivität und Umsatz steigern können, wird sich noch zeigen. Der Blog-Publisher Medium beispielsweise hat dem System nach fast vier Jahren wieder den Rücken gekehrt. Grund dafür seien geringfügige, aber eben doch bemerkbare Effektivitätseinbussen sowie ein abnehmender Gemeinschaftssinn unter den Mitarbeitern. Auch wenn Holacracy-Begründer Brian Robertson eine Übergangsphase von bis zu fünf Jahren prophezeit, ist und bleibt eine derartig radikale Veränderung ein waghalsiges Experiment für eine Firma.

Und auf eine Frage, die für viele Unternehmen überlebenswichtig ist, wird im Holacracy-Konzept überhaupt nicht eingegangen: Wie werden die externen Beziehungen zu (potenziellen) Kunden geregelt? Gerade heutzutage, wo sich das Machtverhältnis immer mehr zugunsten der Kunden verschiebt, darf ein neues Management-System diesen Punkt eigentlich nicht einfach auslassen.

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Autor: Christina Graf

Weiterführende Informationen: Einführung ins Holacracy-Konzept auf Deutsch; offizielle Website: http://www.holacracy.org/

Quellen:

NZZ FOLIO (März 2016, Nr. 296); http://www.holacracy.org/; http://www.forbes.com/sites/stevedenning/2014/01/15/making-sense-of-zappos-and-holacracy/#4bb4324d121f, http://fortune.com/2016/03/04/management-changes-at-medium/

11 Antworten zu «6 Dinge, die Sie unbedingt über das Management-Experiment «Holacracy» wissen müssen»

  1. Ja, ich gebe Ihnen Recht. Unternehmen brauchen Mitarbeiter. Unternehmen brauchen Kunden. Aber Mitarbeiter und Kunden brauchen auch die Unternehmen. Leider denken die meisten Menschen nur an ihre eigenen Vorteile, dabei bleibt die Wertschätzung eines Produktes oder eines dafür erforderlichen Wertes / Preises oft auf der Strecke. Mit besten Grüßen!

    1. Lieber Andreas Hermann

      Wer sich mit Holacracy befasst, kommt auf jeden Fall nicht daran vorbei, das Verhältnis Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Produkt neu zu überdenken. Wenn diese Reflexionsarbeit zu einer grösseren gegenseitigen Wertschätzung führt, ist bereits viel erreicht.

  2. Holacracy bringt den Nachteil mit sich, dass die Regeln von außen vorgegeben sind. Damit ordnen sich die Mitarbeiter einem Regelwerk unter. Ich halte es für sinnvoller, wenn ein Unternehmen sein eigenes System entwickelt und stets anpasst. Hierfür kann Holacracy ein guter Ausgangspunkt sein oder auch Ideen, wie die «Minimum Viable Organization» (http://blog.projektmensch.com/2015/12/09/the-minimum-viable-organization/). Durch die eigene (Weiter)entwicklung werden Handlungsweisen besser in der Kultur verankert.

    1. Lieber Holger Zimmermann,

      Am Punkt mit dem «Regelwerk von aussen» ist natürlich etwas dran. Holacracy erlaubt zwar durch die Möglichkeit der Definition neuer, zum individuellen Unternehmen passender Rollen eine gewisse Flexiblität. Dennoch gibt es zahlreiche, relativ starre Vorgaben – und Mitarbeitende für so etwas zu gewinnen, ist oft schwierig. Dann wird aus «gewinnen» schnell «aufzwingen». Konzepte wie «Holacracy» oder auch die «Minimum Viable Organization» helfen Unternehmen aber auf jeden Fall dabei, verstaubte Denkmuster über Bord zu werfen, die möglicherweise gar nicht mehr zu ihnen passen.

      Danke für den konstruktiven Beitrag.

  3. Holocrasy eignet sich nicht für jedes Unternehmen.

    Voraussetzung ist, dass Eigentümer oder dessen Stellvertreter beschließen, welchen Teil der Macht sie abgeben wollen, über die dann über festgelegte Regeln und Rollen dort Mitarbeiter entscheiden. Entschieden wird dort, wo die Kompetenz ist. Die Idee u.a. ist, die operativen Entscheidungen von den politischen und Ebenen der Eitelkeiten zu entkleiden und daher revidierbar zu machen.

    Das bedeutet auch gegenüber dem Kunden die Mögllichkeit, kundengerechtere Entscheidungen zu treffen. Das ist im Modell möglich. Nur dafür gibt es kein Rezept. Holocrasy muss auf jede Organisation individuell angepasst werden.

    Kompetentere und revidierbare Entscheidungen müssten zu einem Produktivitätsschub führen, wenn er denn gemessen oder sichtbar gemacht werden kann. Es gibt noch viel zu wenig Unternehmen und Organisationen weltweit, die das Modell tatsächlich leben. Daher ist es noch viel zu früh, darüber ein Urteil zu fällen.

    1. Lieber Herr Pächnatz,

      Ich danke Ihnen für den konstruktiven Beitrag.

      Auch ich bin der Meinung, dass sich Holacracy nicht für jedes Unternehmen bzw. Geschäftsmodell eignet – auf jeden Fall nicht in der vollständigen Form. Dass der Übergang «von oben» initiiert wird, ist ein elementarer Bestandteil des Konzepts. Nur so kann auch die Führungsriege dahinter stehen, was Voraussetzung für eine erfolgreiche Transformation ist.

      Tatsächlich ist es so, dass bisher sehr wenige Unternehmen nach diesem Modell funktionieren. Ich denke, dass der Erfolg von Holacracy in einem Unternehmen sehr stark von der Umsetzung abhängt. Wenn es trotz Entscheidung für das Konzept einem grösseren Teil der Mitarbeitenden (auf verschiedensten Ebenen) nicht gelingt, sich vom klassischen Hierarchiedenken zu lösen, können sich die Vorteile einer Holacracy vermutlich kaum richtig entfalten. Hier finde ich den Ansatz von Tony Hsieh mit Zappos interessant: Er hat es ja gleich bei Einführungsbeginn allen Mitarbeitenden freigestellt, mit einer Abfindung von drei Monatslöhnen zu gehen, falls sie den neuen Weg nicht einschlagen wollten.

      Beste Grüsse
      Christina Graf