Scheitern vermeiden: Aus guten Gründen (etwas) später gründen

Umgangssprachlich ist der beste Zeitpunkt zum Gründen eines Unternehmens stets «jetzt». In der Praxis existieren allerdings gleich mehrere sehr gute Gründe, um diesen so wichtigen Akt noch etwas in die Zukunft zu verschieben – sowohl aufgrund persönlicher als auch marktstrategischer Aspekte.

Warum sich Warten lohnen kann

Die gesamte Geschichte der Geschäftswelt ist voller Beispiele von Personen, die eine Gelegenheit beim Schopf ergriffen, bevor es jemand anderes tat. Doch ganz gleich, ob man dabei an eine der genialsten Erfindungen aus der Schweiz in Form des Reissverschlusses denkt oder an neuzeitlichere Business-Geniestreiche: Zu oft wird der Gedanke vom Ergreifen einer Gelegenheit als «sofortiges Handeln stante pede» missverstanden und fehlinterpretiert.
Es gibt definitiv Gelegenheiten, bei denen derartige Eile geboten ist. Ebenso gibt es verschiedene Beispiele, in denen sie das einzig richtige Vorgehen war. Jedoch kann eine solche Handlungsweise aufgrund ihrer überstürzten oder zeitlich einfach nicht ganz passenden Natur ebenso mehr schaden als nützen.

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Gerade heute ist das Risiko dafür überdeutlich vorhanden. Denn wir leben in einer Geschäftswelt, in der Perfektion einen sehr hohen Stellenwert hat. Sowohl bei den Zielgruppen als auch beispielsweise bei Investoren gibt es keinen sonderlich langen «Geduldsfaden», sodass ein noch nicht perfektioniertes Vorgehen lange gutgeheissen würde. Ein Logo etwa mag zwar oft mit einer Serviettenskizze beginnen. Dennoch braucht es meist noch viel Feinarbeit, bis daraus ein wirklich gutes Logo wird. Ähnlich sieht es bei zahlreichen anderen Punkten in der Welt eines Gründers oder einer Gründerin aus.

Weiter gilt: Wer eine Gründung übereilt angeht, nur um möglichst schnell am Markt zu sein, muss deshalb häufig notgedrungen Imperfektionen in Kauf nehmen. Das Produkt ist nicht völlig optimiert, die Prozesse sind alles andere als eingespielt, vieles wirkt halbfertig – und dadurch von vornherein weniger überzeugend und chancenreich.

Natürlich sind eine zündende Idee und zielgerichtetes Handeln wichtig. Rein statistisch jedoch ist es eher unwahrscheinlich, dass jemand anderes den Einfall ebenfalls in einem ähnlichen Zeitraum hat und obendrein alles sofort besser machen kann als man selbst. Was heisst: Eine um einige Monate verschobene Gründung erhöht das Risiko eines Zuspätkommens nur insignifikant, steigert dafür jedoch die Chancen deutlich, es gleich im ersten Anlauf gut hinzubekommen.

Doch stellt sich nun die Frage: Welche Gründe sollten eine selbstständige Person in spe dazu bewegen, noch etwas Zeit verstreichen zu lassen, bevor sie ihr Produkt der Zielgruppe präsentiert?

1. Die aktuelle Marktlage ist alles andere als sicher

Würde jemand heute ein Unternehmen gründen, das sich betreffend die Versorgung und / oder Zielgruppe massgeblich auf Russland oder die Ukraine stützt? Wohl kaum. Hier ist schlicht selbst nach bald zwei Jahren Krieg keine Prognose darüber möglich, wie es in welcher Form weitergeht.

Zwar ist der Ukraine-Krieg sicherlich ein Ausnahmebeispiel. Auf einzelne Branchen oder Produktgruppen bezogen, finden sich jedoch immer wieder Phasen solcher Unsicherheit – und sei es nur deshalb, weil eine gestiegene Inflation zu viele Zielgruppenmitglieder zum Sparen zwingt.

Zwar vermag kein Entrepreneur und keine Entrepreneurin in die Zukunft zu sehen. Jedoch sollte er oder sie sich zumindest sicher sein, dass der grundsätzlichen Geschäftsidee in den kommenden Jahren nicht durch plötzliche Ereignisse der Boden weggezogen werden kann. Die genaue Betrachtung des Ist-Zustandes des Marktes ist einer der wichtigsten Schlüssel hierfür.

2. Die Geschäftsidee ist nicht einzigartig genug

Die Unique Selling Proposition, kurz: USP, ist gerade in einer Welt voller direkter und indirekter Konkurrenz das vielleicht wichtigste Merkmal einer Marke oder eines Produkts. Es ist das, was etwas von allen anderen, aber ähnlichen Produkten oder Marken abhebt und es buchstäblich einzigartig macht.

Das erste iPhone beispielsweise war nicht deshalb erfolgreich, weil es kaum noch physische Tasten hatte (das hatten schon andere Geräte in den Jahren zuvor). Es war deshalb ein solcher Game Changer, weil es zahlreiche Apps mit einer gemeinsamen Verbindung zusammenbrachte. Der App Store, der bereits zum Start tausende Programme bevorratete, war die wahre USP des iPhones und des gesamten dahinterstehenden Gedankens einer neuen Form von Mobiltelefon.

Längst nicht jede Marke / jedes Produkt kann eine derart ausgereifte USP vorweisen. Meist jedoch lässt sie sich durch etwas «Feintuning» herausarbeiten – und braucht dafür nicht mehr als noch etwas Zeit.

3. Es wurde noch nicht genügend Business-Wissen zusammengetragen

Dieser Punkt ist einer, der schon viele gute Ideen dem Untergang weihte – teils sogar trotz perfekter USP. Der Grund: Eine Entrepreneurin oder ein Entrepreneur muss immer ein echtes Multitalent sein, um erfolgreich ein Start-up auf die Beine zu stellen. Niemals genügt es, sich nur im Fachbereich des eigenen Produkts auszukennen.

  • Das riesige Thema Marketing,
  • die Buchhaltung,
  • die Mitarbeiterführung,
  • Verhandlungsgeschick,
  • Präsentationsfähigkeiten,
  • unternehmerisch-strategisches Denken und
  • Wirtschaftswissen

sind nur einige Beispiele von Feldern, in denen sich jede:r Gründer:in beinahe ebenso gut auskennen muss wie beim geplanten Produkt selbst – denn um Profis für die einzelnen Disziplinen anzuheuern, fehlt vielfach zunächst das Geld.

Nehmen wir eines der berühmtesten Schweizer Start-ups der jüngeren Vergangenheit, faceshift. Natürlich war die USP des Produkts hervorragend: eine spezielle Motion-Capture-Technik, um echte Gesichtsbewegungen auf computeranimierte Gesichter zu übertragen und somit deren Mimik natürlicher zu machen.

Es braucht jedoch nicht viel Fantasie für folgenden Gedankengang: Hätten die faceshift-Gründer Brian Amberg, Sofien Bouaziz und Thibaut Weise sich nur auf Virtual Reality verstanden und nicht ebenso auf andere unternehmerisch wichtige Bausteine, wäre daraus wohl kaum ein solches Erfolgsprodukt geworden – gut genug, um von Apple gekauft zu werden.

Viele dieser «Nebenthemen» mögen für manche Gründer:innen verständlicherweise uninteressant sein. Sie sind jedoch häufig für die erfolgreiche Unternehmensführung (beinahe) noch wichtiger als eine zündende Idee. Dies schon, weil sich beispielsweise nur mit etwas Wirtschaftswissen ein gesunder Firmenhaushalt einstellen und nur mit Marketing-Grundfähigkeiten ein Produkt optimal bei der Zielgruppe positionieren lässt.

4. Irgendwo wurde gerade ein ähnliches Produkt lanciert

Wohl kein Unternehmen würde sich gerne vorwerfen lassen, für sein Produkt nicht mehr als nur von anderen inspiriert gewesen zu sein, selbst wenn es sich tatsächlich nicht um eine echte Copyright-Verletzung handelt. Da durch das Internet faktisch die gesamte (Unternehmens-) Welt miteinander in Konkurrenz steht, kann das jedoch durchaus passieren. Dies auch dann, wenn beide Firmen keine deckungsgleiche Zielgruppe haben, wenigstens nicht in geografischer Hinsicht.

Angenommen, ein Unternehmen würde morgen in den USA eine völlig neue Form von Elektro-Lastenvelo herausgeben. Selbst wenn die Firma keine Expansionsbestrebungen nach Europa hätte, würde es auf viele Kund:innen und Pressevertreter:innen zumindest verdächtig wirken, würde ein schweizerisches Unternehmen tags darauf ebenfalls ein ganz ähnliches Fahrrad lancieren.

Hier abzuwarten ist zudem noch in produktoptimierender Hinsicht sinnvoll. Schliesslich gibt es nun jemanden, dessen Vorgehen, Erfolge und Misserfolge als Lernbeispiel dienen können.

5. Im Leben der gründenden Person ändert sich unvorhersehbar etwas tiefgreifend

Die Theorie verlangt zwar, stets Berufliches und Privates voneinander zu trennen. Die Praxis weiss hingegen, dass alle Gründer:innen zunächst einmal Menschen sind. Als solche sind sie natürlich nicht immun, wenn sich zeitgleich mit der geplanten Gründung etwas Tiefgreifendes in ihrem Privatleben tut, beispielsweise:

  • Die Partnerin wird schwanger.
  • Ein geliebter Mensch verstirbt oder leidet an einer schweren Krankheit.
  • Eine neue Beziehung bewegt sich in eine ernsthafte Richtung.
  • Eine langjährige Freundschaft oder Beziehung geht in die Brüche.

Ausnahmen bestätigen zwar die Regel, aber solche und ähnliche Vorfälle im Privatleben sind durchaus dazu geeignet, eine:n Gründer:in in dieser so wichtigen Phase massiv abzulenken oder die eigenen Entscheidungen zu beeinträchtigen.

Gründen benötigt stets einen klaren Kopf und dazu wenigstens halbwegs stabile private Verhältnisse. Sowohl positive als auch negative Ereignisse können deshalb die Chancen eines Start-ups verschlechtern. Dementsprechend ist Warten hier ebenfalls die bessere Lösung.

6. Eine neue Regierung kommt an die Macht

Dieser Punkt ist bei uns in der Schweiz genau so bedeutend wie in praktisch jedem anderen demokratischen Land, in dem wenigstens ein Zweiparteiensystem herrscht. Denn jede Partei und jeder führende Politiker, jede führende Politikerin darin verfolgt einen eigenen Kurs mit eigenen Schwerpunkten – deswegen werden beide schliesslich gewählt.

Nicht zwingend, aber mitunter kann die Wahl einer neuen Regierung durchaus ein Grund sein, um zumindest eine abwartende Haltung einzunehmen, bevor man womöglich ein Produkt an den Markt bringt, für das erleichterte Bedingungen nicht mehr gegeben sind.

Stellen wir uns vor, in drei Monaten wäre Bundesratswahl. Es bestünde die reelle Chance für die Wahl eines Bundesrats ins Wirtschaftsdepartement, der äusserst marktliberale Ansichten pflegt und bereits angekündigt hat, Start-ups und Gründer:innen stark unter die Arme zu greifen und ihnen gleichsam viele bürokratische Hürden abzubauen.

In einem solchen Fall wäre es schon aus bürokratischer Sicht unsinnig, sich noch vor den Wahlen respektive der Departementsverteilung durch eine Gründungsphase zu arbeiten, wenn dies in nur drei Monaten deutlich einfacher werden könnte.

Doch auch umgekehrt sind solche Fälle denkbar. Beispielsweise könnte nach einer Wahl ein zuvor vielversprechendes Produkt durch neue Regierungsvertreter:innen enorm gehemmt werden, etwa durch zusätzliche Steuern oder Regularien. In dem Fall könnte sogar das gesamte Projekt gefährdet sein und es wäre sicherlich gut, nicht bereits bei Investoren und Banken Schulden gemacht zu haben.